So schnell vergeht ein Jahr. Normalerweise verbringe ich den Jahreswechsel in Ruhe und in den eigenen vier Wänden. Dieses Jahr war das anders. Ein paar Tage an der Nordsee sind für mich einfach
immer noch Balsam. Wäre ich beruflich nicht gebunden, würde ich wahrscheinlich bereits „da oben“ leben. Das neue Jahr möchte ich mit einigen philosophischen Worten eröffnen. Es beginnt mit einem
Radiobeitrag.
Im Radio höre ich einen Bericht darüber, dass die Kurzsichtigkeit bei Kindern und Jugendlichen immer mehr zunehme. Zu groß sei der zeitliche Anteil des Blickens auf Bildschirme. Diese
Kurzsichtigkeit ist nicht nur physisch, fällt mir beim Anhören des Radiobeitrags ein. Sie hat sich auch anderweitig in unser Leben eingeschlichen: Das schnelle Glück, die schnelle
Bedürfnisbefriedigung und der große Konsum im Sinne von „nach uns die Sintflut“ ist zu einem täglichen Ablaufschema geworden. Der Stress, den wir täglich erleben ist womöglich auch ein Resultat
dieser „globalen Kurzsichtigkeit“. Was haben wir mit der Weitsicht gemacht?
Ich betrete das Wattenmeer und lasse diese besondere Form der Landschaft auf mich wirken. Sie bewegt etwas in mir, das ich noch nicht ganz erfassen kann. Wenn man im Wattenmeer steht und in
Richtung des Horizonts blickt, schaut man ungefähr vier bis fünf Kilometer weit. Das ist in dicht bebauten Städten nicht möglich. Die Welt rast dort täglich auf uns zu und überfällt unsere
Grenzen der Wahrnehmung.
Wenn ich so in die Weite blicke und nichts als freigelegten Meeresboden und Himmel sehe, spüre ich diese Weite, die mich instinktiv aufatmen lässt. Der Geruch von DMS – Dimethylsulfid, eine von Algen produzierte Schwefelverbindung – liegt in der Luft. Der Atem des Meeres, den ich in tiefen Atemzügen aufnehme. Es wird still um mich.
Ich beginne darüber nachzudenken, was ich eigentlich vom Leben will. Wenn man sich von der Flut der Dinge befreit hat, treten neue
Fragen auf den Plan. Die Fragen kreisen nicht mehr darum, welches Auto neu erworben werden muss, welche Uhr die Sammlung erweitern könnte, wo sich die saisonale Deko auf dem Dachboden befindet
oder wie der kaputte Fernseher ersetzt und finanziert werden kann.
Plötzlich sind da andere Fragen.
Fragen, die auch Furcht aufkeimen lassen. Konsumieren wir deshalb so viel? Aus Angst, den großen Fragen des Lebens zu begegnen? Da sind Fragen nach dem Sinn, Fragen nach Bedeutung. Und diesen
Fragen folgt die Furcht vor der schieren Bedeutungslosigkeit. Hier draußen im Wattenmeer hat vielleicht nichts Bedeutung, weil alles Leben den Rhythmen der Natur folgt. Hier ist es still und auch
die Zeit verlangsamt sich.
Dass sie vergeht, zeigt sich lediglich durch die Bewegung der Wolken, durch den Zyklus der Gezeiten und durch die Bewegungen der Tiere und Pflanzen, die hier zuhause sind. Ich blicke in die
scheinbar endlose Ferne und kein Hindernis unterbricht diesen Blick. Es fühlt sich an, als schaue ich in die Zeit selbst hinein. In all die Möglichkeiten, die da plötzlich sind. Im Schlick
hinterlasse ich vage Spuren meines Weges, den ich hierhergelaufen bin.
Und ich weiß, wenn der Mond seine Position wieder ändert und das Meer zurückkehrt, wird es meine Spuren wieder mit sich nehmen. Als wären sie niemals da gewesen. Die Weitsicht erzählt etwas über
das Leben selbst. Über Sinn und Unsinn, Sinnsuche und Sinnlosigkeit. Als sich das Wasser den Strand einige Stunden später zurückerobert, beobachte ich, wie es meine Fußspuren im Sand verwischt
und allmählich ganz verschwinden lässt.
Aura (Samstag, 22 Januar 2022 12:39)
Hallo Thorsten!
Es stimmt, was du sagst. Wir sind die Baumeister unserer eigenen Gruben und Fallstricke. Gerade aktuell spüre ich das sehr. Kontaktrückverfolgung, Teststrategie in den Schulen, Gültigkeit von Impf- und Genesenendokumenten... alles wird verkompliziert.
Der Mensch ist die einzige Spezies, die sich ihre Mausefalle selbst baut und dann freiwillig hineintappt.
Thorsten (Samstag, 08 Januar 2022 12:11)
Hihi, wenn das Zimmer leer ist könnte manche meinen es wäre langweilig. Die Antwort ist so einfach : raus aus der Bude in die Natur. Wann immer das Wetter mitspielt natürlich.
Am Strand langgehen ist wie im Wald, der ganze Konsummist ist weitgehend ausgeblendet, es sei denn Motorboote, Hochspannungsleitungen, entferne Autobahnen oder hingeworfender Müll stören die Integration des Menschen in die Natur.
Früher sind die Menschen auch an den Küsten entlang gewandert und durch die Wälder bzw. an deren Rändern gelaufen. Wir sind heute noch mit den Vorfahren verbunden, wenn wir es zulassen die Natur auf uns wirken zu lassen.
Und dann kommt der Alltag wieder. "Ich gehe nicht einkaufen, weil es regnet und meine Frisur verrutschen könnte". "Jetzt ist es mir zu kalt". "Mein Auto soll geschont werden, ich fahre erst einkaufen, wenn es nicht mehr regnet". "Es muss die Markensorte sein, anderes kann ich gar nicht kaufen".
Die Menschen bauen sich ihre Gefängnisse selbst . Und je mehr sie fordern und sich der Werbung aussetzen, desto mehr werden sie Sklave des Konsums.
In der Natur werden diese negativen Gedanken ausgelöscht, gedämpft oder in sinnvollere Fragen und Ansichten umgewandelt. Kein google, kein Plakat, kein Schallala aus dem Warenhauslautsprecher, keine optischen Reize Buntes zu kaufen oder etwas rascheln zu lassen. Auch kein Stecker , den man in die Steckdose stecken könnte ;)