Das Seufzende Haus
Das Seufzende Haus ist vor langer Zeit vermietet worden. Es steht in der Wandergasse, eingepfercht zwischen zwei Klinkerhäusern mit gewaltigen Überhängen. Man sagt, es bekomme daher schlecht Luft
und seufze manchmal vor sich hin. An seinem Türbeschlag prangt die Aufschrift „A.“ und diese Tatsache gilt noch immer als wirklich besorgniserregend.
Man sagt, es gäbe einen Schacht in diesem Haus, der noch tiefer führt als nach Unterstadt. Es handelt sich dabei um einen direkten Zugang zur Tiefen Stadt. Unaussprechliches trage sich dort zu.
Das Seufzende Haus sei auf eine seltsame Art und Weise lebendig und in seinem Inneren spüre man einen tiefen, vibrierenden Atem, der Wände bisweilen rissig werden lässt.
Häufiger schon haben verschiedene Architekten der Stadt das Seufzende Haus näher untersucht. Es hat dabei jedoch einige Probleme gegeben. Das innere Ausmaß des Seufzenden Hauses stimmt bei weitem
nicht mit seinen äußeren Dimensionen überein – man ist zu dem Ergebnis gekommen, dass das Haus innen größer ist als außen. In der Stadt erzählt man sich, die Architekten haben schlichtweg nicht
richtig nachgemessen. Pah, alles nur Bagatellisierungen.
Es ist eine noch viel beunruhigendere Erkenntnis über dieses vermaledeite Haus zustande gekommen. Es sei nicht von hier, es sei womöglich ein außerirdisches Konstrukt, ein Schiff, vielleicht
sogar eine Form von Kreatur! Himmel, was nicht alles erzählt wird über dieses Haus.
Der Mieter, der damals im Seufzenden Haus untergekommen ist, soll verschwunden sein. Wohin, meint niemand zu wissen. Aber es wurden Dokumente gefunden. Sie wollen von der Tiefen Stadt berichten,
und noch mehr. Das Haus sei nur der Anfang gewesen. Und doch sei es so, dass sich in diesem Haus noch immer Merkwürdiges zuträgt. Schatten werden dort länger und dunkle Nischen so dunkel, dass...
sie seien bissig, diese dunklen Nischen. Sie seien wie hungrige Mäuler, wie die aufgeklappten Blätter einer Venusfliegenfalle, die nur darauf warten würden, dass...
Eine seltsame Kartographie zeigt das mögliche Ausmaß der Tiefen Wege, die der Schacht innerhalb dieses Hauses eröffnet. Manchen soll wahrlich übel geworden sein bei diesem... Anblick. Die Karte
macht außerdem den Anschein, als gäbe es einen gemeinsamen Punkt, an dem alle Wege zusammenführen:
Über Menaden
Sie seien längst in die Spiegelstadt zurückgekehrt. Sie seien im Grunde unsichtbar. Winzig klein. Aber nicht zu unterschätzen. Sie seien überall, im Grunde. Ihr wisst schon, so durchsetzend, wie
irgendwie möglich. Niemand wisse, woher sie ursprünglich kommen. Sie seien wohl nicht von hier. Außerweltlich, gewissermaßen. Außerordentlich, außerhalb, außergewöhnlich außergalaktisch. Menaden
seien vielleicht eine der ältesten Lebensformen. Jedoch nicht kohlenstoffbasiert.
Im Grunde sei es so, dass wir alle von ihnen besetzt sind. Jedoch unbemerkt. Sie seien nicht unbedingt bösartig. Eher auf der Suche. Aber ohne Sinn und Verstand. Das leise Klackern, Puckern und
Tockern, das vom Inneren der Schädeldecke herrührt, dies und kein anderes Geräusch sei das Werk der Menaden.
Über Lauschende Leitungen
Eine Reihe merkwürdiger Ereignisse trage sich mit zunehmender Häufigkeit in den spiegelstädter Telefonzellen zu, die sich in den Seitengassen der zentralen Spiegelstraße niedergelassen haben. Die
Ereignisse seien erst vor wenigen Tagen eindeutig registriert worden. Es trage sich stets ähnlich zu: Dem Hörer entringe sich ein merkwürdiges Knistern, das auf eine aktive Leitung hinweise,
obwohl keine Nummer gewählt wurde und niemand den Hörer zuvor auf ein Klingeln hin abgenommen hatte.
Etwas auf der anderen Seite der Telefonleitung belausche wohl das rege Treiben in der Spiegelstraße. Oder schlimmeres. Wer oder was auch immer durch den Hörer lauscht, es sei sicherlich nichts
Wohlwollendes. In den spiegelstädter Zeitungen und Radiodurchsagen habe sich der Ernst der Lage bereits Ausdruck verliehen. Es bestünde Handlungsbedarf. Es wird angeraten, sich von jeglichen
Telefonzellen fernzuhalten. Nur für den Fall, dass...
Über Erdwerfer
Nur selten bekäme man sie zu Gesicht. Eigentlich nie. Oder niemals nie. Spiegelstädter Urgesteine kennen sie noch unter ihrer ursprünglichen Bezeichnung „Erdwerfer“. Sie seien Wesen der Tiefe und
Bändiger der Erde. Sie seien nahezu blind und doch unglaublich sensibel für jegliches Ungleichgewicht, das ihren Lebensraum bedroht.
Ihre unterirdischen Bauten gleichen verzweigten Labyrinthen, deren Wege und Irrwege nur immer tiefer führen. Ungleich tiefer. Erdwerfer seien mehr als unterirdische Wühler und Krabbler. Sie seien
der Puls der Erde selbst. Ihr Wandern, ihr Wühlen, ihr Umwälzen lasse den Boden lebendig werden, auf dem unsere prächtige Stadt einst gebaut wurde. Ihr Erdauswurf, der riesige Hügel bilden kann,
sei ein Hinweis, eine Botschaft. Sie trügen zutage, was lange verborgen lag.
Türen nach Irgendwo
Eine große Erfüllung sei sie, die Tür nach Irgendwo. Frieden und Einkehr erfülle denjenigen, der seine Tür findet. Wo sie zu finden ist? Undefinierbar, sie könne praktisch überall und zu jeder
Zeit auftauchen. Sie sei zu erkennen. Wohin sie führt? Nach Irgendwo, so sagt man. Es habe bereits Leute gegeben, die sie gefunden haben. Einem jeden erscheine sie anderswie, individuell und in
einem besonderen Moment der Not, Erkenntnis oder Synchronizität. Dann öffne sie sich aus dem Nichts heraus in unsere bescheidene, kleine Welt. Wer die Schwelle überschreitet, gelange nach
Irgendwo – nicht hier, sondern jenseits, innerseits, allerseits. Allen Türen nach Irgendwo ist gemein: Der Ort hinter jener Tür sei ein ganz persönlicher sicherer Ort, ein intimer Ort der
Einkehr, ein Ort der inneren Ruhe und Zufriedenheit – eine persönliche Heimat.
Über Stille
Sie sei allgegenwärtig – die Stille. Unsichtbar und doch liege sie hinter allen Klängen und Bildern dieser prächtigen Stadt. Sie ist schwer, dumpf klingend, allmähliche Aushöhlung bis hin zu
gänzlicher Zersplitterung. Stille halten, innehalten, still. Stille sei die erste und letzte Instanz, das Eine vom Anderen und das Andere vom Einen. Geboren aus dem Chaos und manifestiert im
zerschneidenden Lärm der äußeren Welt.
Die Stille sei das Gift, das die Medizin ist. Sie wecke die schlafenden Gespenster und trage sie zum letzten Gericht. Im Spiegelbild stehe sie stets hinter dir, ohne Form und ohne Gesicht. Nur
ein stiller Schatten, der von ihr geworfen wird. Im Lärm der Welt ruft sie nach dir, zieht an dir – wie etwas, das dich nicht loslässt. Ihre Fußabdrücke auf Feldern verbrannter Erde locken dich
in ihre Weite. Sie sei das Atmende, das dich atmet, dich lebt. Sie sei der Ursprung, das Verdichtende, das alles hält und nichts zugleich.
Über Wolken
Überall kann man sie sehen: Wolken. Und mehr. Es sei nicht klar, was es mit ihnen auf sich hätte. Manche von ihnen bewegen sich tagelang nicht von der Stelle. Es heißt, sie seien keine echten
Wolken, sondern etwas anderes. Ihr Verhalten widerspräche jeglicher Physik. Pah, als ob. Sie seien besorgniserregend. Manchmal hängen sie tief über den Dächern der Stadt, so tief, dass sie die
Häuser zu erdrücken drohen. Bisher sei ihr Verhalten nicht feindlich gewesen. Eher neugierig. Ich sage euch, es sind einfach nur Wolken.