Anima Hollow ist ein beschauliches, bizarres Städtchen irgendwo zwischen den Zeilen der schönen, neuen Welt. Eine liebenswürdige Stadtgemeinde, in welcher der angebrochene Tag sich im Fundus spiegelt, die bleiche Mondscheibe sich abends über die Dächer erhebt und seltsame Botschaften durch die Luft vibrieren, während alle bei einer heißen Tasse Tee im Gasthaus Zur Goldenen Katze das frisch gedruckte Wochenblatt aufschlagen.
Die Straßen dieser Stadt sind ein Spiegel, ihre Wege ein Irrgarten, ihre Grenzen eine Bordsteinkante. Und wie sie einst geschrieben wurde - diese wahrlich einmalige Stadt - erfahrt ihr
hier:
Spiegelstadt, Anno 1802
Sie schreibt. Und die Tage werden länger. Sie, weiß, dass der Weg gebrannt ist. Sie schreibt, um nicht gänzlich zu verschwinden. Um hier zu bleiben. Sie schreibt, um zu verstehen. Aber sie weiß,
dass sie fortgehen muss. Sie sieht, wie das Buch sich füllt. Sie weiß, dass es bindet. Es bewahrt. Auf den Dächern tanzt der Regen. Und am Himmel hängen schwere, graue Wolken. Sie weiß, dass sie
ersticken wird. Sie kennt die Dunkelheit schon.
Sie weiß, dass sie weiterschreiben muss. Sie hält sich wach. Sie spürt den schwarzen Nachthimmel, der sich wie ein bleiernes Tuch über alles legen will. Sie weiß, was geschehen wird. Sie will gehen, aber sie hält sich fest. Sie ist noch hier. Sie sieht, dass die Zeiger der Uhr stillstehen. Sie ahnt, dass es fast zu spät sein mag. Der prasselnde Regen wird eindringlicher und vermengt sich zu einem unheilvollen Dröhnen, das ihr unter die Haut fährt.
Bald ist es soweit. Sie kennt die Wahrheit. Sie bewahrt die Finsternis. Sie kann die Bürde kaum noch tragen. Sie fühlt sich am Abgrund. Sie geht keinen weiteren Schritt. Sie steht zu nah am Rand. Sie ist nicht waghalsig. Sie kann den Boden nicht erkennen, nur die Bodenlosigkeit. Sie fühlt sich am Abgrund, so nah. Sie bangt und fürchtet sich. Sie weiß nicht, wann sie fällt. Sie schreibt. Immer weiter. Zwischen ihren Zeilen erschafft sie eine Welt. Einen sicheren Ort, der sie bewahren wird. Ein Refugium. – Dann springt sie.
Ein alter, speckiger Schinken – beschrieben mit beißender Tinte – der ausführlich über die Spiegelstadt berichten will, begrüßt die werte Leserschaft heute mit den folgenden Worten: Was bisher
bekannt ist, erfahrt ihr hier. Es sei vorab davor gewarnt, dass im Grunde nicht vieles bekannt ist und es deshalb zu Verwechslungen, Verirrungen und Verwirrungen der besonderen Art kommen kann.
Das Betreten der städtischen Gegenden geschieht auf eigene Verantwortung. Bedenkt, dass in dieser Stadt nichts so sein muss, wie es den Anschein machen will – Wunder und Wahn, allesamt gespiegelt
zwischen den Zeilen von Anima Hollow.
Innenstadt
Die Innenstadt ist der belebteste Bezirk unserer prächtigen Stadt. Ihr Herzstück bilden der Marktplatz in der Spiegelstraße sowie das Gasthaus Zur Goldenen
Katze, das wahrlich der Dreh- und Treffpunkt unserer Gemeinschaft ist. Im Innenstadt-Bezirk spielt sich das bunte Treiben und Leben der meisten Spiegelstädter ab. In der Spiegelstraße
reihen sich urige Lädchen an edle Geschäfte, die alles anbieten, vertreiben und herstellen, was das Herz begehrt.
Hier gehen Einkaufen, Einkehren und Einwecken Hand in Hand. Und wenn es dann abends zu dämmern beginnt, legt sich ein besonders zauberhafter, warmer Schein über die Spiegelstraße und den
Marktplatz. Surrende Schwärme von Glühwürmchen sowie schummrig schimmernde Lampions tauchen das Stadtleben abends in ein wundersames Meer aus Licht und Klang. Gerade bei Vollmond sei die
abendliche Atmosphäre noch elektrisierender. Dann, wenn sich der sanfte Schein der bleichen Himmelsscheibe auf den Dächern der Stadt spiegelt, entstehe ein wahrlich magisches Knistern, das die
Luft bis zum Morgengrauen erfüllt. Wagt auch gerne einen Schritt in Richtung der Spiegelstädter Schicksalsweberei.
Angrenzend zur Spiegelstraße erreichen wir im Nu die Kannengasse und das verlassene und verwahrloste Wandereck, das eine Abzweigung zur berühmt berüchtigten
Wandergasse offenbart. Der Wandergasse, müsst ihr wissen, ist unter keinen Umständen zu trauen. Man sagt, sie sei das Ergebnis eines irrsinnigen Kartographen, dessen Orientierung
in hohem Alter merklich nachgelassen hat. Er fertigte mehrere Karten der Wandergasse an und veränderte dabei jedes Mal einige Details, ohne es selbst zu bemerken. Die Folgen dieses Werks sind
nicht ungefährlich. Die Wandergasse ändert immer wieder ihren Straßenverlauf, ohne Vorwarnung und ohne jegliche Struktur.
Das Betreten der Wandergasse ist daher nicht zu empfehlen, zumal es die räumliche Orientierung innerhalb der Stadt erheblich erschwert. Hinzu kommt die eigenartige, nicht vorhandene zeitliche
Linearität, die in der Wandergasse herrscht. Zeitreisen und Zeitsprünge sind hierbei nur das kleinste Übel, ehrlich.
Man erzählt sich auf dem Marktplatz, dass die Wandergasse manchmal für ganze Tagen oder Wochen verschwunden sei. Kompletto, kompletti. Einfach weg, ihr versteht schon. Sie sei zwischenzeitlich
„abgewandert“, pah, wer es glaubt. Bisher ist sie immer wieder aufgetaucht, aber Verlass ist nicht auf sie. Bei Zeiten entwickele sie sogar eine Art pubertären Charakter und lege dann ein
wahrlich gerissenes Verhalten an den Tag, das schon so manchen Spiegelstädter fürchterlich empört hat. Sie lasse Türen, Mauern, Zäune, Durchgänge oder sogar das Abendessen, Toiletten und ganze
Betten verschwinden – zum Nachteil der Bewohner selbstverständlich, die ihre Wohnungen und Zimmer in der Wandergasse angemietet haben! Womöglich könnte es noch schlimmer kommen, ihr seid nun also
vorgewarnt.
Unbedingt zu erwähnen sei die fließende Ader unserer prächtigen Stadt: Der Fluss Fundus. Der Fundus fließt seit geraumer Zeit durch die Spiegelstadt. Er ist kein
gewöhnlicher Fluss. Er ist etwas gänzlich anderes. Des Nachts spiegelt sich die bleiche Mondsichel auf seiner finsteren Oberfläche. Er hat zahlreiche Ausläufer, die sich unterhalb der
Spiegelstadt befinden. Und man sagt, dort unten schürft der Fundus nach Mineralien, Erzen und allerlei nahrhaften Gesteinen. Seine Ausdünstungen sind bemerkenswert, ebenso wie seine merkwürdigen
physikalischen Eigenschaften, die ihn bisweilen dazu befähigen, nach oben zu fließen oder nach oben zu regnen. Dies wird den Ein oder Anderen bereits völlig verwirrt haben, ist jedoch kein
ungewöhnliches Fundus-Phänomen.
Außenbezirke
Alte spiegelstädter Karten offenbaren allerlei Kurioses über die weitgehend unbekannten und unbetretenen Außenbezirke der Stadt. Sie seien verfluchte Lande, verhext und verwildert. Nach
Hinterstadt gelange man daher schon lange nicht mehr. Ein verbotenes Buch will im Detail über die Außenbezirke berichtet haben, wenngleich sein Verfasser niemals aufgefunden wurde. Er sei am Rande der Wandergasse untergekommen. Bekannt ist, dass er das seufzende Haus bewohnt hat. Nun, dieser ominöse Verfasser
ist ein Phantom, womöglich verschluckt und unwiederbringlich absorbiert von den Hauswänden, Ziegeln und klappernden Treppenstufen dieser vermaledeiten Gasse. Verspeist von den tief führenden,
unterkellerten Räumen des seufzenden Hauses, dessen steinernes Rückgrat sich immer weiter in die Tiefe windet.
Eine historische Kartographie der Spiegelstadt, aus dem Besitz der alten Nanda stammend, benennt und beschreibt die Außenbezirke wie folgt: „Im Osten die Domäne des Schwarms, wo
sich gefiederte Geschöpfe kreisend um die alten Türme auf den Schneiden des Windes bewegen. Sie seien hier sesshaft geworden und vielleicht bewachen sie auch etwas, das keinen Namen hat.
Im Süden die Domäne der Staubteufel, wo sich rotierende Windröhren über das verbackene Heideland bewegen und quälend durch die Schwelbrände der gleißenden Mittagssonne rauschen.
Sie seien der Zorn der Alten, der Salamander, die einst das Feuer geboren haben. Im Westen die Domäne des Kraken, wo sich der Fundus tausendfach verzweigt und sein schwarzes Blut
in den fruchtbaren Boden speist. Er forme hier das Antlitz eines riesigen Kraken, des Alten, der einst aus dem Wasser stieg und zu Tinte zerfloss. Im Norden die Domäne der
Ackermuhmen, wo eine faulige Präsenz gespenstisch über die Ebenen hinkt und heulend im Winde verweht. Hier sei die Geburtsstädte der Hexen, die den Vorhang geschlossen halten.“
Weiteres ist bekannt über die Rücker Farm, die südlich der Spiegelstadt liegt, wo der Boden allmählich trockener wird und an die Domäne der Staubteufel angrenzt. Hier wirbelt der
Staub in dürren, säuselnden Säulen jenseits der Grenzzäune der Gebrüder Rücker auf. Etwas trägt sich hier zu. Wo sich diffuse Lichter durch die vertrockneten Kornfelder bewegen und die rostige
Mühle stetig weitermahlt, entringe sich ein tiefes Grollen dem Brunnenschacht, der einst Wasser führte. Dieser Schacht, der sich tiefer schraubt als angenommen, verbirgt etwas. Vielleicht ein
schlafendes Gespenst, vielleicht etwas anderes. Etwas vibriert auf diesem verlassenen Stück Land. Telegrafen funktionieren hier nicht. Etwas stört die ausgehenden Signale. Aber es sei gänzlich
unsichtbar, nicht greifbar, nicht wahrnehmbar.
Bekannt ist ebenfalls die Kicherbrücke, die im nördlichen Außenbezirk der Spiegelstadt über eine kurze, direkte Verbindung über den Fundus hinwegführt. Sie ist der einzig
betretbare Pfad zu den faulenden Feldern. Aber, seid gewarnt, wenn Leute das Gebälk dieser Brücke betreten, will man ein unheimliches Kichern vernehmen. Die seltsamen Töne seien aber nicht auf
das alte, marode Holz zurückzuführen. Sie seien viel mehr das hämische Gelächter des Fundus selbst, der angeblich in einer unheilbringenden Verbindung zu den Ackermuhmen des nördlichen
Außenbezirks stehe. Auffällig ist, dass die Vegetation im nahen Umkreis der Kicherbrücke abgestorben ist. Einige behaupten deshalb, die Brücke sei irgendein magisches Artefakt. Die Ansichten
hierzu gehen weit auseinander und es lassen sich auch keine einheitlichen Aussagen dazu finden. Zusammenfassen lässt sich also: Über die Kicherbrücke ist man sich in der Spiegelstadt nicht
wirklich einig geworden.
Vorstadt, Hinterstadt und Unterstadt
Wo fängt man da an. Nun, eine jede Kreatur, die die Schwelle des hiesigen Stadttores überwinden will, um in den Genuss des spiegelstädter Lebens zu kommen, wird zuvor die beschauliche Vorstadt
durchqueren. Die Vorstadt ist lediglich eine spießbürgerliche Ansammlung gleichartiger Gebäude und sich wiederholender Bauten unauffälliger Kleinfamilien. Die Vorstadt hat im
Grunde nichts Aufregendes an sich und gleicht bloß einer Auslagerung all dessen, was gewöhnlich ist. Und auch die Geschehnisse sind alles andere als außergewöhnlich: Die Post ist da und in der
Gleichengasse ist schon wieder der Strom ausgefallen. Die Vorstadt ist an geistiger Konformität kaum zu übertreffen.
Und trotz aller Einförmigkeit ist etwas Seltsames in den Winkeln der Vorstadt zu beobachten: Jede Straße, jedes weiß lackierte Zäunchen, jedes idyllische Häuschen, jedes spiegelblank polierte
Fensterchen, jedes verzierte Türchen – alles gleicht hier dem jeweils anderen in solch einem ausgeprägtem Maße, dass eine Unterscheidung so gut wie unmöglich zu bewerkstelligen ist. Hier ist
alles gleichartig und selbstähnlich. So selbstähnlich, dass selbst die eigene Erscheinung in den Straßen der Vorstadt dazu neigt, sich ungefragt zu duplizieren, wodurch es zu komplizierten
zeitlichen Überlagerungen kommen kann. Ihr seid nun vorgewarnt.
Sie ist wirklich merkwürdig, diese Vorstadt. In ihren unscheinbaren Vorstadthäusern wiederholt sich nicht nur die Einrichtung, der Kaffee am Morgen und das Bier mit Schaum am Abend. In ihrer
selbstähnlichen Struktur potenziert sie alle erdenklichen jemals gewesenen, seienden und werdenden Versionen ein und derselben Kreatur. Es soll keine Seltenheit sein, dass man sich in der
Vorstadt früher oder später selbst begegnet.
Über die abgetretenen Feldwege, immer entlang der faulenden Felder, gelangt man in den letzten Außenbezirk der Spiegelstadt, in die Domäne der Ackermuhmen, und hier angrenzend liegt ein
verdorbener Ort: Hinterstadt. Sie sei nur noch eine Ansammlung verlassener und leerstehender Gebäude, trauriger Architektur und verwilderter Straßen. Sie sei eine Ruine. Ein
Schatten, geworfen von der Spiegelstadt selbst. Und dieser Schatten, nun, er hätte ein Eigenleben entfaltet. Auf den faulenden Feldern sei etwas gesät worden, das vor sehr langer Zeit verdarb.
Und diese fauligen Dämpfe, sie seien wie untote Gespenster, die jenseits der Feldwege ihr Unwesen treiben. Diese verdorbene Präsenz, sie sei hungrig. Sie sei niemals wirklich satt. Es ist nicht
viel bekannt über die Hinterstadt, da sich schon seit etlichen Jahrzehnten niemand bis hierhin gewagt hat. Nicht ohne Grund, wie anzunehmen ist.
Die unterirdischen Ausläufer des Fundus haben über die Jahrhunderte ein komplexes Netz aus Röhren und Durchgängen geschaffen, das einem irrsinnigen Labyrinth gleicht: Unterstadt.
Die beißenden Ausdünstungen des Fundus unter Tage sind kaum zu ertragen. Dort in der Unterstadt ist er geradezu bissig, sagt man. Einige behaupten ohnehin, der Fundus sei eine dämonische Kreatur
ohne Körper und Form. Für die meisten ist er einfach nur ein Fluss, der sich an sonnigen Tagen heiter durch die Spiegelstadt schlängelt.
In der Unterstadt jedoch, zeigt er ein anderes Gesicht – wie allen in der Unterstadt. Man erzählt sich, dass die Unterstadt von Doppelgängern und Schattenwesen, von Kanaldrachen und anderem
Getier bevölkert wird. Hierfür gibt es bis heute keine eindeutigen Beweise, wenngleich es Hinweise darauf gibt, dass die Unterstadt über einen seltsamen Humor verfügt, dessen Folgen man durchaus
als Antlitz einer „verkehrten Welt“ bezeichnen könnte. Es verhält sich ähnlich wie mit der Hinterstadt: Man hält sich nicht besonders häufig oder gerne unterhalb von allem auf.
Die Tiefe Stadt liegt noch tiefer. Man erzählt sich, sie sei bevölkert von den zuckenden Scheusalen der Welt im Stein. Tanzende, klackend-knackende Kreaturen, die Hüte in Form
von spitzen Pyramiden tragen. Sie graben sich tiefer und tiefer und ihr bizarres Gelächter dringe immer mal wieder hinauf, nach oben. Sie streben in die Dunkelheit, ewig abwartend auf "das
Ereignis" und ewig sehnend nach ihrer Einkehr. Es ist verboten, dies zu wissen. Verboten, darüber zu sprechen. Ihre unterirdischen Gewölbe winden sich noch tiefer und bleiben nicht gleichtief.
Jemand will dort gewesen sein. Jemand will über sie geschrieben haben. Er habe in der Wandergasse gemietet. Es ist nicht viel über ihn bekannt. Er sei der Verfasser mehrerer Dokumente, die das Vorhandensein der Tiefen Stadt belegen. Pah, wahrscheinlich durchgedreht.