Minimalismus bedeutet, das Wesentliche zu erkennen und das Wesentliche zu tun, um die eigene sowie die Entwicklung der Gesamtgesellschaft in ihrem vollen Potential auszuschöpfen. Beruflich spielt
dieser Umstand eine wichtige Rolle für mich. Ich verspürte schon in eigenen Kindertagen den „Ruf“, anderen Menschen etwas beizubringen, sie zu begleiten, sie wertzuschätzen und ihnen auf dem
Erfahrungsweg des Lebens hin und wieder die Laterne der Vorausschau zu halten.
Im Lebens- und Lernraum „Schule“ prallt nicht selten die Wunschvorstellung der Lehrpersonen mit der Realität der kindlichen Welt aufeinander. Was gelernt und gewusst werden soll, ist komprimiert
und fachbezogen im Curriculum verankert und gilt als Kompetenzrahmen der Lehr- und Lernprozesse. Allem voran das höchste Kulturgut, die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, gefolgt von
mathematischen, musikalischen, künstlerischen und sportlichen Fähigkeiten und getragen durch die ganzheitliche Auseinandersetzung mit der Sach- und Sozialwelt, in der sich Kinder, Heranwachsende
und Erwachsene gemeinsam und in Vielfalt erleben.
Was sollen Kinder darüber hinaus lernen?
Diese Frage stelle ich mir gerne und oft. Ich halte sie für wesentlich. Denn: Im systemischen Feld der Schule erleben sich Kinder in ihrer eigenen Abhängigkeit und im Widerstreit zwischen freiem
Wille und auferlegter Pflicht, zwischen Selbst- und Fremdbestimmung und im erlebten Kampf um die eigene Mündigkeit. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Taktung und Institutionalisierung
des Lernens und Lebens in „Schule“ ein Widerspruch in sich selbst ist, ein unlösbares Dilemma – das Dilemma der Schule.
Welche Zukunft soll entstehen?
Um zu erkennen, was wesentlich ist, muss klar sein, was das Ziel ist. Die Zukunft gestalten wir in jedem Moment mit unseren Gedanken, inneren Haltungen, Glaubenssätzen und Handlungen. Was
wünschst du dir für deine Zukunft – persönlich, gesellschaftlich, spirituell? Welche Fähigkeiten, Einsichten und inneren Haltungen helfen dir, deine Lieblingsversion von Zukunft zu
kreieren?
Die Kinder von heute sind die Erwachsenen und Verantwortungstragenden von morgen, die, indem wir unsere eigene Fackel weitergeben, die Zukunft tragen und gestalten, die wir heute als Visionäre
vor uns sehen. Welche Fähigkeiten, Einsichten und inneren Haltungen helfen unseren Kindern von heute, die schönste und beste Version der Zukunft zu leben und weiter zu kreieren?
Antworten setzen Fragen voraus
Hinsichtlich des technischen Fortschritts, der Digitalisierung und der Wissensverdichtung, liegt es in unserer Verantwortung, prozessbezogene Fähigkeiten zu fördern und selbst zu entwickeln. Das
Wissen ist nicht länger der Lerngegenstand allein, Wissen erfordert auch Methoden, Zeitmanagement, Fokus und die Fähigkeit zur Priorisierung.
Kinder müssen lernen, die richtigen Fragen zu stellen, ja, sie müssen lernen, überhaupt Fragen zu stellen. Neugierde, Offenheit, Interesse und Wachheit in einer Umwelt voller Informationen und
einer Flut von Dingen, Menschen und Sinneseindrücken, sind der Schlüssel, nicht nur, um die richtigen Fragen zu stellen, sondern auch um Antworten zu finden. Bedeutsame Antworten im Kontext der
eigenen Lebenspraxis.
Kritisches Denken lehren
Kinder dürfen kritisch denken, auf ihre kindliche Art und Weise. Sie dürfen lernen und erleben, dass wir uns ähneln und doch alle verschieden sind. Sie dürfen sich selbst als wertgeschätzt
erleben, als wichtig und als eigenständige Wesen, die etwas zu sagen und zu fragen haben. Aber: Wie lehrt ich Neugierde, Offenheit, Interesse, Wachheit und kritisches Denken? Wie lehre ich das
Fragenstellen und Antwortfinden?
Fragen über Fragen. Es gibt zahlreiche Ratgeber und Lehrbücher über Erziehung, Lehren und Lernen. Mach es dir einfach und erkenne das Wesentliche: In jeder Frage liegt bereits ihre Antwort
verborgen. Also, wie lehre ich Neugierde, Offenheit, Interesse, Wachheit und kritisches Denken? Das Schlüsselwort ist „Ich“.
Bin ich Lehrender, Lehrende, Erzieher oder Erzieherin, dann lehre ich als Person selbst, als Vorbild für das, was ich lehren will. Sei selbst neugierig, sei offen der Welt und den Menschen
gegenüber, sei interessiert und inspiriert, sei wach und aufmerksam, sei kritisch und höre nie auf mit dem Fragenstellen. Sei Vorbild für die jungen Menschen unter uns, die noch nicht so weit
entwickelt sind, die noch nicht wissen, was du weißt und die noch nicht das Leben leben, was du lebst. Hab Verständnis für ihren Hochmut, ihre Naivität, ihre Unwissenheit, ihre
Orientierungslosigkeit und fördere ihre Begeisterung, ihren Drang zum Erleben, ihre sprudelnde Energie und klugen Einfälle.
Sei eine Inspiration und entwickle genau die Eigenschaften, die du lehren willst. Denn dann fällt das auferlegte Lehren und die zwanghafte Erziehung weg, weil du echt bist und nichts mehr
erzwingen brauchst. Weil jeder und alles sich so entwickeln darf, wie es gerade stimmig ist und weil die Umgebung der Spiegel der eigenen, inneren Haltung ist. In diesem Moment verwandelt sich
Er-Ziehung in Be-Ziehung.
Wer du bist, entscheidet, was du lehrst
Ich bin überzeugt: Es wird dir kaum gelingen, etwas zu lehren, das du selbst nicht verinnerlicht hast, das du selbst nicht lebst und selbst nicht bist. Die Kinder von heute brauchen ihre
Erwachsenen, als Lehrende, als Erziehende und vor allem als Begleiter, als Gefährten, als Liebende und Lebende, als ihre Meister und Meisterinnen des Lebens, das sie selbst noch vor sich
haben.
Als wer du lebst, entscheidet, was du lehrst, vermittelst, überträgst, weitergibst. Als wer du lebst, entscheidet darüber, welche Fackel du überreichst und welches Leben du in der Zukunft
verursachst. Als wer du lebst, kann die Kinder von heute zu neuen Meistern und Meisterinnen von morgen machen. Als wer du lebst, kann die Zukunft nachhaltig verändern. Frage dich mutig: Als wer
lebst du dein Leben? Als wer willst du dein Leben leben?
Wer lebt dein Leben überhaupt – du selbst?